Historie

In Rottenburg am Neckar, am rechten Ufer des Flusses im Stadtteil Ehingen, liegt inmitten des ehemaligen Kirchhofs die einstige Stifts- und jetzige Pfarrkirche St. Moriz. Ihr schlanker Turm zieht schon von weither den Blick an und scheint auf das Bauwerk zu seinen Füßen aufmerksam zu machen, das sich bei näherer Betrachtung als das namhafteste gotische Gebäude der Stadt erweist. Die umfassende Außen- und Innenrenovation in den Jahren 1969 bis 1975 machte die alte Stiftskirche darüber hinaus zu einem der bedeutendsten Kunstdenkmäler im weiten Umkreis der Bischofsstadt Rottenburg.

Über die Anfänge dieses Gotteshauses berichtet die sogenannte "Gründungslegende", deren älteste schriftliche Überlieferung auf Dr. Johannes Eck (1486-1543), den bekannten Gegner Luthers, zurückgeht. Eck weilte zwischen 1495 und 1499 zur Erziehung bei seinem Onkel, Mag. Martin Mayer, dem Stadtpfarrer an der Rottenburger Marktkirche, und kannte die Legende von daher. Eck berichtet: Ein großer Herr hat auch einmal St. Mauritius heimgesucht in den Savoyen (d.h. das Grab des Heiligen in St. Maurice im Wallis/Schweiz) und hat viele Heiltümer (=Reliquien) aufgeladen. Und als er diese durch das Dorf Ehingen am Neckar gegenüber Rottenburg geführt hat, sind die unvernünftigen Tiere stillgestanden, und durch keinen Weg (d.h. auf keine Weise) hat man sie mögen weiterbringen. Da das der Herr gesehen, hat er das Heiligtum geschenkt den Herren desselbigen Ortes...

Historischer Kern dieser Sage ist die Tatsache, daß der heilige Bischof Ulrich von Augsburg (der "große Herr" der Gründungslegende) im Jahr 940 nach St. Maurice reiste, um dort Reliquien des heiligen Mauritius zu holen. Sowohl der heilige Ulrich, als auch die Herren des Dorfes Ehingen – und damit wohl auch die der vorstädtischen Siedlung Rottenburg – waren Angehörige des Hauses der Grafen von Dillingen. Durch diese geschichtliche Konstellation erklärt sich wahrscheinlich das Vorhandensein der Mauritiusreliquien in Ehingen. Für diese Reliquien wurde ein neues Gotteshaus am Neckarufer errichtet, das nicht der Ehinger Pfarrkirche St. Remigius unterstand sondern als Eigenkirche der Ortsherren gegründet wurde und sich auf Grund des Vorhandenseins der Reliquien bald zur Wallfahrtskirche entwickelte.
Baugeschichte
Die Wallfahrtskirche, als ältester, wohl noch im 10. Jahrhundert entstandener Kirchenbau hatte einen Nachfolger, der nach übereinstimmendem Bericht der frühesten Rottenburger Geschichtsschreiber aus dem 17. Jahrhundert im Jahr 1209 unter Graf Burkhard II. von Hohenberg erbaut worden sein soll. Von diesem nicht anderweitig urkundlich nachweisbaren Bau sind am heutigen Kirchengebäude keine Teile mehr erhalten. Unter dem Chor der heutigen Kirche wurde jedoch 1973 das in Ost-West-Richtung angeordnete Mauerwerk eines unterirdischen Raumes entdeckt, der eindeutig zum kleineren Vorgängerbau des heutigen Gotteshauses gehörte.
Die Wände der etwa 4,20 x 6,80 Meter großen Anlage waren mit relativ wohlerhaltenen Freskomalereien aus dem frühen 13. Jahrhundert dekoriert. Gemalte, durch Ringe geraffte Vorhänge bedeckten die Wände, die durch ein Blattwerkfries gegen das in Ansätzen vorhandene und ebenfalls bemalte Tonnengewölbe der Decke abgegrenzt waren. Der nicht zugängliche unterirdische Raum kann nach Lage der Dinge nur als Aufbewahrungsort der Mauritiusreliquien gedient haben.

Um oder kurz nach 1300 begannen die Grafen von Hohenberg mit dem Bau der heutigen Kirche, die 1323 soweit vollendet war, daß in diesem Jahr der erste Altar des Langhauses mit einer Pfründe ausgestattet werden konnte. Ältester Bauteil ist der Chor, unter dem abermals ein unterirdischer Raum eingebaut wurde. Er lag, nord-südlich ausgerichtet, im Chorhaupt unter dem Choraltar, also quer zur "Krypta" des Baus von 1209. Der rundbogige, unter der Erdoberfläche gelegene Eingang des im 15. oder 16. Jahrhundert aufgefüllten unterirdischen Raumes von 1300, 1701 erstmals aufgedeckt, befand sich in den Fundamenten der Chorsüdwand, östlich vom apsisartigen Chorschluß der Annakapelle. Dieser zweite unterirdische Raum war die Grablege der Herren von Hohenberg. Die erste Beisetzung fand 1308 statt (Ursula von Oettingen, dritte Gemahlin Alberts II. von Hohenberg).
Das Vorhandensein der Mauritiusreliquien und ihre bereits jahrhundertelange Verehrung wird wohl die Veranlassung dafür gewesen sein, daß Rudolf I. von Hohenberg den heutigen Kirchenbau errichten ließ, ihn zur Grablege seines Geschlechts bestimmte und an der Kirche 1330 ein Chorherrenstift gründete.

Verschiedene Urkunden des 14. Jahrhundert zeigen, daß sich die Vollendung der Innenausstattung der Stiftskirche nur sehr langsam vollzog. Margarete von Nassau, Witwe Rudolfs II. von Hohenberg, stiftete 1361 eine Geldsumme "an den buwe ze Ehingen" – in jene Zeit fällt vielleicht die Vergrößerung der Chorfenster.Von hohenbergischen Stiftungen für den Chor (Vollendung) und Orgel ist 1364 die Rede 1365 wird der letzte der im 14. Jahrhundert erwähnten Altäre im Langhaus gepfründet. Ein Jahr später sandte das Stift einen Almosensammler aus, der Gelder zur Vollendung der Kirche beibringen sollte. Wohl um 1370/80 wurde ihre Ausmalung mit Fresken begonnen, zuerst im Chor und kurz nach 1400 an den Pfeilern des Langhauses.
Ihr Reichtum an Reliquien, vor allem des heiligen Mauritius und seiner Gefährten, machte die St.-Moriz-Kirche bald zum vielbesuchten Wallfahrtsort. Urkunden von 1412 und 1413 bezeugen, daß sie in jenen Jahren wegen des starken Zustroms von Wallfahrern vergrößert werden mußte. Während dieser Bauarbeiten wurde das Langhaus um ein Joch nach Westen verlängert, es entstand die heutige Westfassade mit der Rosette. Der Turm, dessen Untergeschoß von der ersten Bauperiode 1300/23 her bereits vorhanden war, wurde nun vom zweiten Stockwerk an zügig weitergebaut, wie zahlreiche Steinmetzzeichen der Parler-Werkstatt an diesem und den darüberliegenden Stockwerken bezeugen, und konnte 1433 vollendet werden. Die erste Glocke wurde 1419 darin aufgehängt. Der Innenraum erhielt seine neuerdings wieder hergestellte Form, am Obergaden entstand der sehr bedeutende Freskenzyklus mit den atlantenartigen Trägerfiguren.
Mit dem Bau der zweigeschossigen Ulrichskapelle an der Nordseite des Chors wurde 1489 begonnen, drei Jahre später konnte sie eingeweiht werden. Die Stiftskirche hatte damit das Aussehen erhalten, das sie nun mehr als zwei Jahrhunderte kennzeichnen sollte. Für das 16. Jahrhundert sind keine bauliche Veränderungen nachzuweisen, doch wurde später, in den Jahren 1629/30, das Innere von Chor und Langhaus durch Alexander und Jakob Rebmann von Rottenburg mit rustikal-derben Seccomalereien im Stil des Frühbarock verziert, von denen Reste an den Langhausarkaden in den Seitenschiffen erhalten sind.
An der Südseite des Chors befand sich hinter dem Heilig-Kreuz-Altar – er stand am Ostende des südlichen Seitenschiffs – die "alte Sacristey". Sie wurde 1701 abgebrochen durch den Neubau der Annakapelle ersetzt. Deren halbrunder Ostabschluß ist also nicht ein Rest des Kirchenbaus von 1209, wie schon vermutet wurde, sondern eine Neuschöpfung aus der Barockzeit – in den Fundamenten fanden sich gotische Werkstücke zur Wiederverwendung.

Die Umbauarbeiten, die 1706 einsetzten und mit der Neukonsekration des Gotteshauses 1709 ihr Ende fanden, brachten einschneidende Veränderungen am Aussehen des Kirchengebäudes. Die Seitenschiffmauern wurden abgetragen und mit größeren Fensteröffnungen auf den alten Fundamenten neu und höher als zuvor errichtet. Die ursprüngliche Basilikaform des Langhauses verschwand nach außen unter einem über Mittel- und Seitenschiff herabreichenden Satteldach, die Fensterrose wurde zugemauert. Im Inneren ersetzte ein hölzernes weiß getünchtes Tonnengewölbe die ursprünglich bemalte Flachdecke und verdeckte zugleich die Lichtöffnungen des Obergadens. Die Seitenschiffe erhielten Backsteingewölbe, der Fußboden wurde durch Auffüllen höhergelegt. Mit einfachsten Mitteln wurde so versucht, einen hellen Barockraum zu schaffen. Eine Umgestaltung des Chorraumes unterblieb, vielleicht wegen der Armut des Stiftes, deretwegen wohl auch die alten, gotischen Portalgewände in die neuen Seitenschiffmauern übertragen wurden.
Die folgenden Zeiten beließen das vorgefundene unverändert, beschränkten sich auf gelegentliche Ausbesserungen und Erneuerungen der Innenausstattung, so im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts, als der Hochaltar und einige Nebenaltäre durch Werke im Stil der sogenannten "Schreinergotik" ersetzt wurden.

Eine aus Anlaß der Siebenhundertjahrfeier der Kirche unternommene Innenrenovation erbrachte die Freilegung der gotischen Malereien an den Säulen des Langhauses.


Im Jahr 1969 begann erneut eine umfassende Außen- und Innenrenovation, die 1975 weitgehend abgeschlossen werden konnte. Ihr Ziel war neben der Sicherung des Baubestandes vor allem die Wiederherstellung des gotischen Charakters der Kirche, d.h. die Befreiung des Bauwerks von späteren, entstellenden Zutaten. Im einzelnen waren damit folgende bauliche Maßnahmen verbunden:

 

  • Im Äußeren die Wiederherstellung der Basilikaform der Gotik durch Reduzierung der Seitenschiffhöhe auf ihr ursprüngliches Maß und den sich daraus ergebenden Umbau des Dachstuhls.
  • Im Inneren wurde die gotische Raumwirkung durch Tieferlegung des in der Barockzeit aufgefüllten Fußbodengewölbes auf sein ursprüngliches Niveau und durch Beseitigung des barocken Scheingewölbes wieder erreicht.
  • Die dem alten Zustand entsprechende Kaskadendecke ermöglichte die Freilegung des Freskenzyklus am Obergaden.
  • Ein weiteres Ergebnis der Renovierungsarbeiten war die Öffnung des Rosettenfensters an der Westfassade, dessen gotisches Maßwerk allerdings in der Barockzeit zerstört worden war und das nun in moderner Form neugestaltet werden mußte.