Wandmalereien

St. Moriz und sein einzigartiger Schatz spätgotischer Wandmalerei

Einen besonderen kultur- und kunstgeschichtlichen Schatz
besitzt die ehemalige Stifts- und Wallfahrtskirche St. Moriz im Stadtteil Ehingen von Rottenburg in ihrer künstlerischen Ausstattung. In ihr gibt sich heute noch die historische und frömmigkeitsgeschichtliche Bedeutung dieser Kirche und des mit ihr verbundenen, um 1330 von den Grafen von Hohenberg für die Grablege ihres Geschlechts gegründeten Chorherrenstifts zu erkennen. Die Hohenberger waren mit allen bedeutenden süddeutschen Adelsfamilien verbunden, insbesondere waren sie 1253 mütterlicherseits durch die Heirat der Gräfin Gertrud-Anna zur Stammfamilie des habsburgischen Königs- und Kaiserhauses aufgestiegen. Von exzellenter künstlerischer Qualität sind gerade die von Wölflin von Rufach zwischen 1330 und 1360 geschaffenen Grabmalskulpturen der Stifterfamilie mit den Gestalten des Grafen Rudolf  I. von Hohenberg (+ 1336), seiner zweiten Gemahlin Irmengard von Württemberg (+ 1329) und Rudolfs Sohn Albrecht (+ 1359) aus erster Ehe, des hier bestatteten Kanzlers Kaisers Ludwigs des Bayern (+ 1347) und Fürstbischofs von Freising.  

Von höchster Bedeutung ist die Wandmalerei.
Von der bemalten Fläche her betrachtet, allein der Quantität nach gemessen, bietet die Wanddekoration von St. Moriz einen der umfangreichsten Bestände mittelalterlicher Wandmalerei in einer Kirche Süddeutschlands. Die Entstehung  der „al secco“, d.h. auf trockenem Grund, ausgeführten Ausmalung reicht von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis ins letzte Drittel des 16. Jahrhunderts.  Ihren künstlerischen Höhepunkt erreicht diese Malerei in den Schöpfungen der Zeit von 1370 bis 1435.

Der älteste Teil der Ausmalung findet sich im Kreuzrippengewölbe (Foto) des Chors.
Bezogen auf den Schlussstein des Gewölbes (Foto) mit dem Antlitz Christi – versinnbildlichend, dass Christus der Schlussstein ist, von dem das ganze Gebäude ausgeht und der es zusammenhält – zeigt sie die vier Lebewesen aus dem Buch Ezechiel 1,5-10 und dem Buch der Offenbarung 4,7: die engelförmige Menschengestalt, den Löwen, den Stier und den Adler. Zusammen mit dem dort angebrachten Sternhimmel mit Sonne und Mond (Foto), die neben ihrer kosmischen Bedeutung auch auf die Doppelnatur Jesu Christi bezogen sind, die Sonne auf seine Gottheit und der Mond, der abnimmt und zunimmt, auf seine Menschennatur, wird mit den vier Wesen auf die universale, über alle vier Enden der Welt sich erstreckende  Herrschaft Christi verwiesen. Zugleich steht der Mond für die von Christus als der Sonne angestrahlte Kirche. Jedes der vier Lebewesen ist mit einem Schriftband (Foto 1 und Foto 2)versehen, auf dem die Namen der vier Evangelisten stehen, wobei die Bezeichnungen für Matthäus und Markus vertauscht worden sind. Die Evangelisten haben die Frohe Botschaft Christi im mehrfachen Sinne in die Welt gesetzt.

An der Südwand des Chors ist die ehemalige,
in die Mauer  eingelassene rechteckige Reliquiennische (Foto) mit einem Gemälde  aus der Zeit um 1470 versehen. Es schildert die schon um 955 erfolgte Übergabe der Reliquien des Märtyrers Mauritius und seiner Gefährten, wodurch St. Moriz im ausgehenden Mittelalter sich zu einer Mauritiuswallfahrtsstätte entwickeln konnte. Seit der Dynastie der Sachsenkaiser, der Ottonen, im frühen 10. Jahrhundert war der aus der Thebais in Ägypten stammende römische Märtyrer Mauritius der Patron des Reiches, das sich im 15. Jahrhundert Heiliges römisches Reich deutscher Nation nannte.  

An der Nordwand des Chors
befindet sich mit der Darstellung der Stigmatisation des Hl. Franziskus von Assisi (Foto) (1182-1226) aus der Zeit um 1570/90 die jüngste Phase der Ausmalung von St. Moriz. Dieses Wandbild mit dem Gründer der franziskanischen Ordensgemeinschaften hat seinen Hintergrund in der „Klause“, des vom Stift St. Moriz aus seelsorgerlich betreuten Klosters von Franzikanerterziarinnen bei der Kirche St. Remigius.

Die Ausmalung des Kirchenschiffs
umfasst den Bilderschmuck von neun der insgesamt zehn Säulen (Foto). Nur die zweite Säule von vorn der nördlichen Säulenreihe ist ohne Malerei, wohl weil hier sich die Kanzel befunden hat.

Zu den erhaltenen Wandbildern
gehören außerdem das erst 1973 freigelegte große Fresko nördlich des Chorbogens mit einer Kreuzigung Christi (Foto) mit Maria und Johannes begleitet vom Kirchenpatron Mauritius und der hl. Katharina von Alexandrien von 1370/90 und eine weitere Kreuzigung Christi (Foto) mit Maria und Johannes an der linken Seitenwand der heute als Sakramentskapelle genutzten Anna-Kapelle in Fortsetzung des südlichen Seitenschiffs.
 
Der hohen Qualität der Malerei
kommt man in der Betrachtung der Bilder an den Säulen (Foto) besonders nahe. Die Bildwelt der Säulen umfasst insgesamt 13 Motive. Die große, stehende Madonna mit Jesuskind an der ersten Säule vor dem Chor in der Nordreihe ist durch die Rahmung verbunden mit dem Erzmärtyrer Stephanus. Die Säule gegenüber bringt den Apostel Bartholomäus zu Gesicht. Ihm angeschlossen ist ein Leidens- oder Erbärmdechristus. Die vorzügliche Ausführung der hl. Dorothea an der südlichen zweiten Säule wird begleitet von einem mit Pfeilen bespickten Hl. Sebastian. Es folgen in der südlichen Säulenreihe ein thronender Bischof (Ansoaldus von Straßburg?) und – ebenfalls thronend – der Hl. Florentius, Bischof von Straßburg im frühen 7. Jahrhundert. In hervorragender Malerei sind  der hl. Christophorus  an der linken Säule vom Haupteingang und der hl. Johannes der Täufer an der gegenüber liegenden rechten Säule vertreten. An der Nordseite folgen an der zweitletzten Säule ein Bildnis des Regensburger heiligen Bischofs Wolfgang von Pfullingen (um 920-994) und die Hl. Barbara. Die dritte Säule der Nordseite zeigt die „Heimsuchung Mariens“. Alle diese Säulenfresken haben eine Entstehungszeit zwischen 1370/80 bis 1420/30.

Weitere Informationen zu den Säulenmalereien finden Sie hier

Mit einem Ansatz perspektivischen Sehens
wie in Untersicht wiedergegebenen Gewölbebogen zeigt der Obergaden des Kirchenschiffs einen Reigen auf Kapitellen stehender, das gemalte Gewölbe tragender, verrenkt tänzelnd wirkender Gestalten (Nordfries Foto, Südfries Foto - zum Vergrößern bitte die Fotos anklicken) in unterschiedlicher Kleidung und unterschiedlichen Alters.

Zwischen 1417 und 1435 entstanden, trägt gleich die erste Figur im Nordosten des Obergadens eine Mütze mit Narrenschelle, weshalb der Gedanke  an die Darstellung eines Narrentanzes im Kirchenschiff sich nahelegt. Als Narrentanz verbreitete sich zur Zeit der Ausmalung  vom damaligen Konzil in Konstanz (1414-1418) her der durch groteske Körperbewegungen sich auszeichnende Moriskentanz. Die Morisken, spanisch „moriscos“, waren die zum christlichen Glauben bekehrten Mauren Spaniens.

Der Name des Patrons der Kirche St. Moriz wird in dem damals maßgeblichen Werk der „Legenda aurea“, dem „goldenen Legendenbuch des Jakobus a Voragine (+ 1298) von lateinisch „maurus“, der „Mohr“, abgeleitet. So kann der Zyklus am Obergaden von St. Moriz als sinnbildliche Darstellung der Märtyrer Mauritius und seiner Gefährten als „Morizen“ interpretiert werden, als zum Glauben bekehrte Mauren, die als Moriskentänzer sich vom „verrückten“ Narrentanz um Frau Welt abgewandt, nun der Kirche zugekehrt diese zu tragen beginnen. In dieser Sicht und Deutung findet sich in St. Moriz die älteste Darstellung von Moriskentänzern.  In der  2. Hälfte des 15. Jahrhunderts  haben Moriskentänzer Darstellungen gefunden bei Israhel van Meckenem d. J. um 1470, durch Erasmus Grasser 1480 in München und 1500 am „Goldenen Dachl“ in Innsbruck.
 
Das Geviert des Kirchenschiffs besetzen in den Ecken vier großgeflügelte Engel.
Oberhalb des Chorbogens trägt einer von ihnen auf seinem Spruchband den Namen des Evangelisten Markus (Ostfries Foto - zum Vergrößern bitte das Foto anklicken). Engel sind Boten Gottes (Westfries Foto- zum Vergrößern bitte das Foto anklicken). So stehen die vier Engel für die damals auch als „die vier Boten“ bezeichneten Evangelisten, welche Jesu Botschaft verkündeten, und können die Morisken verstanden werden als diejenigen, die wie Mauritius und seine Gefährten durch die Taufe und ihr Martyrium Boten und Zeugen des Glaubens geworden sind.

Sowohl inhaltlich wie formal mit der Umsetzung perspektivischer Vorstellungen gehört dieser große Freskenzyklus von St. Moriz zu einer Zeit, in der 1417 in Santa Maria Novella in Florenz von Masaccio das erste zentralperspektivische Gemälde der europäischen Kunstgeschichte realisiert wurde, zu den progressivsten Zeugnissen der Wandmalerei nördlich der Alpen. Das Vordringen solch fortschrittlicher Seh- und Darstellungsweisen war wohl durch das Konzil von Konstanz als den damals zentralen Ort des Umschlags neuer Ideen in Europa begünstigt und gefördert worden.

Nachdem erst 1909 die Malerei an den Säulen und bei der Renovierung 1969 bis 1975 die Ausmalung des Obergadens freigelegt worden waren, wurde durch die jetzt 2014 vorgenommene Renovation des Innenraums und die restauratorischen Behandlung der Wandmalereien ein neuer, entscheidender Beitrag geleistet, um dem Erhalt dieses wertvollen Zeugnisses der Kunst der Wandmalerei der Spätgotik in Süddeutschland und damit in ganz Deutschland eine Zukunft zu sichern.

Diakon Wolfgang Urban